Muttertag - An alle Eltern: Danke für alles.

(Vorsicht: Wer glaubt, dass das jetzt eine Hommage an alle lieben Eltern ist, irrt)

 

Letzte Woche war Muttertag.

Als ich an dem Tag im Internet surfte, stieß ich auf folgende Zeile:

 

An alle Eltern: Danke für alles.

 

Das löst in mir ähnliche Gedanken und Gefühle aus, wie der Quatsch "Jesus hat Dich lieb".

Ich möchte euch beschreiben, was das in mir auslöst und warum dieser Satz, den ich am Muttertag gelesen habe, Verrat an sich selbst ist.

 

Der Reihe nach:

a) Was sagt dieser Satz aus? "An alle Eltern" - also alle Eltern. Nicht irgendwer, nicht manche, nicht einige, sondern alle ... Ich nehme mal an, dass "Eltern" die Personen sind, die ein Kind großgezogen haben bzw. verantwortlich für ein Kind waren oder sind, die ein Kind geboren haben oder mit ihrem Samen die Eizelle befruchtet haben. Nehmen wir auch noch die mit ins Boot, die vllt. ein Kind adoptiert haben.

 

b) Danke für alles. Für alles. Nicht für irgendwas oder manches oder einiges, sondern für alles. Egal, was es ist - alles. Jede Handlung, jede verbale und nonverbale Aussage, jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Regel etc. etc. etc.

 

Vielleicht sehen schon ein paar von euch, worauf ich hinaus will.

 

Die, die diesen Satz geschrieben haben, sagen also danke an meine leiblichen Eltern für alles, was diese getan, gesagt, gedacht, gefühlt haben.

Sie sagen also danke an meine leiblichen Eltern,

 

  • dass sie mich geschlagen haben.
  • dass sie mich manipuliert haben.
  • dass sie mich ignoriert haben.
  • dass sie mich gezwungen haben, zu fühlen, was sie wollen.
  • dass sie mich gezwungen haben, nicht zu fühlen, was sie nicht wollen.
  • dass ich nicht vital sein durfte.
  • dass ich sie nie wirklich fassen konnte.
  • dass sie gesoffen haben.
  • dass sie nicht zugehört haben.
  • dass sie mir gedroht haben, mich wegzugeben.
  • dass sie sich blind gestellt haben vor Tatsachen, Leid, Suizidimpulsen, Depressionen, Ängsten, Verzweiflung, Schreie, Hass, Wut, Gegenwehr, Trauer.
  • dass sie mich ausgelacht haben.
  • dass sie mich als Systemmüllhalde nutzten.
  • dass sie mich nicht geliebt haben.
  • dass ich immer ein perfektes Bild abgeben musste.
  • dass ich mich verloren habe.
  • dass ich denke, ich müsste ständig Leistung bringen, um in irgendeiner Form gemocht zu werden.
  • dass sie mich nicht verstehen.
  • dass ich mich ständig abwerte, wenn ich etwas nicht schaffe.
  • dass Teile in mir sich selbst hassen.
  • dass sie mir einen bösen Geist austreiben wollten, wenn ich wütend war.
  • dass sie meine Geschwister kaputt gemacht haben.
  • (...)

 

 

Vor ein paar Jahren noch hätte ich an dem gezweifelt, was ich aufgelistet habe, weil das System, in dem ich aufgewachsen bin, alles verschleiert, verneint, leugnet und umgestaltet. Es war sowohl vonseiten der Familie als auch vonseiten der Konfession, in der ich großwerden musste, eine Art Todsünde, seine Eltern mit dieser Art von Tatsachen zu begegnen.

So etwas musste verdrängt werden.

Ich habe das 30 Jahre lang verschleiert.

Nun ist es an der Zeit, dass die Teile in mir, die 30 Jahre lang schweigen mussten, zu Wort kommen dürfen, fühlen dürfen, hassen dürfen.

 

Und komm mir jetzt nicht mit dem Vergebungs-Geschwurbel. Wenn nicht gefühlt werden darf, was da ist, ist Vergebung gar nicht möglich. Und wenn gefühlt werden darf, was da ist, dann ist ein Akt der Vergebung vllt. gar nicht mehr notwendig.

 

"An alle Eltern: Danke für alles."

Das ist Verrat an sich selbst in meiner Welt.

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Kommentare: 2
  • #1

    Stiller (Mittwoch, 15 Mai 2019 09:00)

    Sehr schön herausgearbeitet.

    Eltern hinterlassen Positives in Kindern.
    Eltern hinterlassen (massiv) Negatives in Kindern.

    Mit diesem Negativen sind die Eltern immer auch die schlimmsten Feinde die die Kimder in ihrem Leben haben. (Von einigen Grenzfällen abgesehen, wo es noch schlimmere Feinde im Leben der Kinder gibt).

    Wer Vater oder Mutter ist, macht sich immer massiv schuldig an seinen Kindern. Das ist ein Naturgesetz, es geht nicht anders.

    Wenn Eltern das nicht wahrhaben wollen - es ändert nichts an der Wirklichkeit.
    Wenn Kinder das nicht wahrhaben wollen - sie verraten sich selber, so wie hier beschrieben.

    Vielen Dank für diese klare und wichtige Analyse.

  • #2

    Kikkulade (Donnerstag, 16 Mai 2019 09:42)

    Danke <3