Jeder ist anders

Ich habe mich vorhin mal wieder mit einem meiner Spezialinteressen beschäftigt. „Andersartigkeiten“ oder das, was die Psychologie „psychiatrische Erkrankungen/Störungsbilder“ nennt. Ich nenne das „Andersartigkeiten“. Mich interessieren Andersartigkeiten. Da kann ich mir stundenlang Reportagen über diese und jene Art anschauen oder in Büchern rumblättern. Heute schaute ich mir neben einigen anderen Interviews auch Interviews mit Asperger-Autisten an.

 

Und da ist mir mal wieder in den Kommentaren aufgefallen, dass die NTs ihre Floskeln runterleiern:

„Jeder ist anders“

„Ich mag auch keine Menschenmassen“

„Ich gehe auch nicht gern zu Behörden“ usw.

 

Ich habe schon länger im Verborgenen darüber nachgedacht, weshalb es vielen NTs so wichtig ist, auch anders zu sein. Dann habe ich mal ein wenig beobachtet.

 

Die NTs sind plötzlich, wenn ich sage, dass ich lichtempfindlich bin, auch lichtempfindlich.

Interessant ist allerdings, dass ich permanent beobachte, dass die allermeisten NTs, wenn ich eine Sonnenbrille trage, keine tragen.

 

Wenn ich sage, dass ich keinen Lärm mag, mögen sie auch keinen Lärm.

Interessant ist allerdings, dass bei ihnen ständig das Radio, der Fernseher läuft, als „Berieselung“ (Zitat). Ich habe mal jemanden kennen gelernt, der in Sachen „Reden“ alles getoppt hat, was ich zuvor kannte: Der hatte allen Ernstes ein Tattoo auf seinem Oberarm mit der Aussage „Enjoy the silence“.

 

Wenn ich sage, ich mag keinen Smalltalk, mögen sie auch keinen.

Interessant ist aber, dass ich bei Besprechungen beobachte, dass berufliche Themen permanent auf die Sozialebene gestoßen werden, um dann lang und breit darüber zu berichten, was gar nichts mit dem Thema zu tun hat.

Oder sie treffen sich privat mit Kollegen, um über Kinder, Ehemänner, Hobbies zu sprechen. Oder sie trinken vor der Arbeit mit Kollegen Kaffee und quatschen über Person x, die natürlich nicht anwesend ist.

 

„Jeder ist anders“ – auf einer gewissen Ebene mag das stimmen, auf anderer Ebene ist das nicht korrekt. Es gibt Strukturen, die jeden von uns ausmachen. Und wenn man Persönlichkeitsmodelle kennt, stellt man fest, dass sich Menschen kategorisieren lassen – Bedürfnisse, Ängste, Muster sind feststellbar und dafür bedarf es keines „Kennens“ der anderen Person mit langen Reden.

 

Aber ob ihr wollt oder nicht: Seitdem ich denken kann, ist für mich die Welt der Neurotypischen etwas sehr Andersartiges, und in ihrem Sozialverhalten ähneln sie einander sehr bis komplett.

Es gibt einige Bereiche, die NTs per se nicht verstehen können:

Dass Blickkontakt schmerzhaft für mich ist.

Dass leichte und/oder unvorhersehbare Berührungen eine extreme Abneigung in mir auslösen.

Dass für sie komplizierte oder komplexe geistige Tätigkeiten anstrengend sind und für mich entspannend: Als ich einer Kollegin sagte, ich freue mich auf die nächste Steuererklärung, war sie ziemlich verwirrt. Oder wenn ich mich für juristische Texte interessiere oder abends vor dem Schlafengehen es mir gutgehen lasse beim Lesen eines Fachbuches, überlege ich es mir jetzt mehrfach, ob ich das in Unterredungen mit NTs mitteile, denn das ist sehr fremd für sie.

Dass ständige Veränderungen in der Wohnung/im Arbeitsbereich sehr verwirrend für mich sind.

Dass ich genaue Informationen zu unterschiedlichen beruflichen Vorgehen haben muss.

Dass ich keinerlei Interesse an Weihnachtsfeiern habe.

Dass ich keine Freunde suche.

 

Tja … jeder ist halt anders. Und manche sind so anders, da kann man nur staunen … und ich halte mich noch zurück – viel mehr an Andersartigkeit will ich den NTs nicht zumuten. Ich habe schließlich voraus, dass ich mich in ihrer Welt seit Jahrzehnten zurechtfinden muss (um überleben zu können), sie dagegen ertragen solche Andersartigkeiten nur in geringen Dosen.

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Kommentare: 1
  • #1

    Stiller (Freitag, 21 Dezember 2018 08:19)

    Jeder Mensch hat
    a) Anteile, mit denen er so ist wie alle anderen Menschen
    b) Anteile, mit denen er so ist wie viele andere Menschen
    c) Anteile, mit denen er so ist, wie wenige andere Menschen
    d) Anteile, mit denen er so ist, wie kein anderer.

    Als die NTs mir nach meiner Diagnose zunehmend auf den Geist gingen damit, dass sie alle auch (hach!) so anders waren, habe ich mir das mal genauer angeschaut. Dabei habe ich festgestellt:
    In meiner Welt sind die NTs anders, um gleich zu sein.
    Ihr "anders" mir gegenüber war in Wirklichkeit immer ein "Ich auch!"

    NTs sind dadurch charakterisiert, dass sie deutlich weniger als AS damit klar kommen, anders zu sein
    als ihr Umfeld. Das setzt sie unter einen enormen Anpassungsdruck, dem sie reflexhaft nachkommen. Tragen alle anderen auf einmal ein blaues Band am Handgelenk, dann tun sie das auch. Tragen alle anderen auf einmal karierte Schuhe, dann tun sie das auch.

    Sage ich in ihrer Gegenwart, dass ich Stille sehr schätze, dann behaupten sie das auch von sich.
    Denn sie wollen dazugehören. Auch wenn sie in Wirklichkeit eine Welt für sich schaffen, die so still ist wie ein eingeschalteter Fön.

    NTs können eine Menge ertragen, aber nicht, dass andere anders sind. Das geht nur, wenn das erlebte "anders" in eine genehmigte Kategorie fällt. - Was weiß ich "Nerd", "einsamer Wolf", irgendwie sowas. Dann hast du aber bitte auch alle Kriterien zu erfüllen, die ein "Nerd" oder ein "einsamer Wolf" zu erfüllen hat. Sonst gibt's Druck.

    Das ist nach allem, was ich sehen kann, ursächlich auf die enorme soziale Bedürftigkeit zurückzuführen, die NTs nun mal auszeichnet: Bist du "anders", dann kann es sein, dass du als Quelle sozialer Zuwendung ausfällst. Damit wirst du einer potenziellen Gefahr. Denn was ist, wenn das jetzt alle täten und keine soziale Zuwendung mehr da wäre? Panik - Reflexe.

    AS sind deutlich weniger sozial bedürftig als NTs. Daher können sie ganz entspannt die Andersartigkeit leben, von der die NTs träumen.

    Manchmal schaue ich mir die riesigen Plakatwände an, die die NTs in ihren Städten so schätzen und sehe, dass ich nur das kaufen muss, was alle anderen auch kaufen, damit ich einzigartig, individuell und frei bin. Und dann kichern meine Kleinen.

    Sie sehnen sich, die NTs. Aber sie können nicht. Sie sind nun mal Herdentiere. AS sind das nicht. Und ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Zebras in Afrikas Savannen in ruhigen Phasen gerne darüber unterhalten, dass sie in Wirklichkeit ganz anders als alle anderen Zebras. Und dann nicken alle anderen Zebras kräftig mit dem Kopf, denn ihnen geht es genauso.