Zermürbend

Ich habe nun einige Stunden darüber nachgedacht, ob ich diesen Text so scharf schreiben sollte, wie er mir „vorschwebt“. Inwiefern das auf Verständnis trifft und inwiefern auf Ablehnung. Diejenigen, die sehr reizempfindlich sind, hochsensibel, als psychisches Grundbedürfnis Ruhe brauchen, werden nachvollziehen können, was ich meine. Jene, die all das nicht sind und viel Ruhe nicht brauchen, werden dieses Gefühl der Zermürbung nicht kennen – das wird die Majorität sein, denn ansonsten wären die Menschen, die ich hier darstellen werde, bereits ausgestorben bzw. würden auf massive Ablehnung stoßen.

 

Ich nehme permanent wahr – und mit „permanent“ meine ich: Bis zu 24 Stunden am Tag -, dass die Privatsphäre-Grenze eines Menschen von vielen anderen Menschen ständig mindestens tangiert, aber zumeist überschritten wird. Ich habe dazu eine bildliche Darstellung im Kopf, die ich in naher Zukunft skizzieren werde, um es auch so deutlich zu machen, da man mir des Öfteren mit „Argumenten“ begegnet, die augenscheinlich logisch aber näher betrachtet unlogisch sind.

 

Als Beispiel führe ich das Thema „Lärm“ an:

 

Die Majorität scheint sich in einer lärmenden Umgebung wohl und heimisch zu fühlen. Sie haben nicht nur externe Lärmquellen wie Radio/Fernseher/PC’s/Laptops (ob Musik, Geplapper eines Moderatoren oder sonstiges) zur Verfügung, um die sie umgebenden Menschen in ihrer Privatsphäre zu belästigen, sie sind auch in ihrem eigenen Verhalten lärmend. Tatsächlich sind diese Menschen Lärm. Sie gehen laut, sie reden laut, sie bewegen sich laut.

Es ist ihnen tatsächlich unmöglich, leise zu gehen. Wenn sie gehen, dann stampfen sie auf dem Boden auf wie Elefanten auf zwei Beinen. Wenn sie irgendeine Haushaltstätigkeit oder Nahrungsaufnahme tun, tun sie diese laut: Sie klappern mit Geschirr, sie schlagen und knallen mit Türen, sie klackern mit Besteck wenn sie essen. Sie schlucken laut, sie atmen laut. Sie rascheln, knistern, rutschen hin und her, schnipsen mit ihren Fingern, trommeln mit denselben auf einer Oberfläche, stöhnen herum, schieben Sachen auf Tischen herum, stoßen an Stühle, schieben Stühle laut an den Tisch heran … und so weiter.

Kant schreibt in seinen Schriften zur Geschichtsphilosophie folgendes dazu:

„Denn ich sehe keinen andern Bewegungsgrund hiezu [Anm.: das Herumlärmen], als daß sie ihre Existenz weit und breit um sich kund machen wollen“.

 

Und ich habe noch nicht ihre Sprache thematisiert:

Sie reden in einer Lautstärke, dass man meint, sie müssten einen Bombenangriff überschreien. Ganz abgesehen von ihren komplett überflüssigen Wortäußerungen.

 

Es kann nicht anders sein, als dass die meisten Menschen diese Art, sich zu verhalten, teilen und befürworten, denn es begegnet mir derart oft und regelmäßig, dass, wenn es nicht so wäre, diese lärmenden Menschen ziemlich schlechte Karten in der Gesellschaft hätten.

Die „schlechten Karten“ hat nun aber derjenige, der reizempfindlich, hochsensibel und ruhe-sehnsüchtig ist. Immer und überall ist er diesem ausgesetzt.

Geht er wandern, kann er darauf mit Gewinnchancen wetten, dass er Menschen begegnet, die die Natur zu einer Lärmhölle machen. Als Anmerkung: Es interessiert niemanden, was ihr da lautstark mitteilt! Geht er schlafen, kann er darauf mit Gewinnchancen wetten, dass irgendwo irgendein Lärmliebender seiner Sehnsucht nach lautstarker Musik nachgeht. Ich weiß nicht, ob es allen bekannt ist: Es gibt Kopfhörer. Die gibt es für nicht einmal 10 Euro im Supermarkt.

Ich spreche hier übrigens nicht über Ausnahmen. Ich spreche hier von regelmäßiger Lärmfolter, unter der Woche; nachts!

Ich weiß auch nicht, ob das bekannt ist: Es gibt in Deutschland eine gesetzlich geregelte Nachtruhe, die bei Nichteinhaltung zu einem (nicht unerheblichen) Bußgeld führen kann.

 

Lärm macht bekanntlich krank. Da aber die Minorität immer Anpassung leisten muss, leidet auch diese darunter. Wir müssen es hinnehmen. Wir müssen damit leben, dass wir womöglich krank werden, weil die meisten Menschen rücksichtlos und übergriffig sind. Wir müssen des Nachts Gehörschutz in unserer eigenen Wohnung tragen.

An manchen Tagen, wenn ich bereits von all dem zermürbt worden bin, wenn ich mich fühle wie jemand, den man ordentlich verprügelt hat, habe ich den starken Drang, mir meinen Kopf an einer Wand aufzuschlagen. Damit es endlich, endlich aufhört. Damit ich es nicht mehr ertragen muss. Und wenn diese Verzweiflung sehr stark wird und ein Overload überlebt wurde, bleiben nur noch die Resignation und die Tatsache, dass die Menschen egoistisch und grenzüberschreitend sind und dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich das ändern wird, gen null strebt.

 

Und jetzt höre ich schon diejenigen aufschreien, die sich angesprochen fühlen: „Wie kann man nur so intolerant sein?“; „Autisten und Nicht-Autisten sollten Wege zueinander finden und sich nicht bekämpfen.“

Zu den Leuten, die mir Intoleranz vorwerfen und schon vorgeworfen haben, sage ich: Ihr habt keinen blassen Schimmer, worum es geht. Ihr habt keine Ahnung! Das, was ihr als „ich auch“-Vergleiche anbringt, ist ein Witz!

Und zu denen, die meinen, es gäbe für Autisten und Nicht-Autisten Wege zueinander: Das sehe ich nicht so. Es mag ganz vereinzelte Ausnahmen geben, aber in der Masse ist es nicht machbar. Ich bekämpfe auch die Nicht-Autisten nicht, das ist unmöglich. Aber Wege zueinander finden? Das ist ein Traum. Eine Illusion.

 

Mit das Schlimmste ist das nicht ernst genommen werden. Und wie sollte die Majorität das auch ernst nehmen, da sie sich mit Lärm doch so wohl und heimisch befindet? Wenn man ihnen sagt, dass man keine Freunde hat, dann packen sie all ihre Mitleidstüten aus und überhäufen einen mit Beileidsbekundungen; aber wehe, Du machst ihnen klar, dass Du gar keine Freunde willst, dann bist Du der Alien vom Dienst. Es ist also gleich, was wir Vulkanier machen, die Reaktionen der Nicht-Vulkanier sind meistens absonderlich und meistens das, was sie selbst für sich haben wollen. Es interessiert sie gar nicht, was uns stört oder nicht stört, sie stellen keine Fragen, sie handeln automatisch, wie sie sich selbst gegenüber handeln würden.

 

Als ich jemandem mitteilte, ich sei sehr lichtempfindlich – ich führe ständig eine Sonnenbrille mit mir herum. Im Sommer, wenn die Sonne scheint und keine Wolke dieselbe verdeckt, bin ich ohne Sonnenbrille so gut wie blind -, sagte derjenige, man sei ja nicht mit Sonnenbrille auf die Welt gekommen, und außerdem sei das eine Frage der Entspannung. Ja, sagt mal … habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Ist das Dummheit oder Bosheit oder Gedankenlosigkeit? Was stimmt mit euch nicht?

Merkt ihr eigentlich, was ihr da macht? Ist euch klar, dass eure Aussagen massiv abwertend sind? Und dann kommt ihr allen Ernstes mit dem Begriff Intoleranz – ja, merkt ihr’s noch?

 

Sehr oft, wenn ich wieder von außen derart bedrängt und eingeschränkt werde, stellt sich in mir der starke Drang nach Rückzug ein. Manchmal stelle ich mir einen Ort vor, der sehr menschenfern ist. Und hätte ich einen Wunsch bei einer Fee frei, wäre es genau das: Einen Ort, wo man mich nicht belästigt, damit diese Zermürbung aufhört, damit ich nicht krank werde. Wobei ich sehr sicher bin, dass jene, die diese Abwehrleistung nicht aufbringen müssen, sich schon längst krankgeschrieben und eine Kur beantragt hätten.

 

Und: Nein, danke! Ich brauche euer Mitleid nicht. Benutzt eure Kopfhörer, wenn ihr Musik hören wollt. Haltet mal den Mund, wenn ihr wandern geht. Lasst die Menschen in Ruhe, die euch nicht von selbst ansprechen. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn ihr anderen ihre Ruhe lassen würdet, damit die Minderheit der Gesellschaft sich nicht ständig und überall verbiegen muss, damit sie überlebt.

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Kommentare: 3
  • #1

    Katharina (Samstag, 04 Februar 2017 12:42)

    Ich bin nach wie vor beeindruckt, wie gut du Thematiken, die mich selbst stark beschäftigen, in Worte fassen kannst - Worte, die ich selbst oft nicht finde, wenn ich sie jemandem erklären möchte.
    Auch in diesem Blogeintrag finde ich mich wieder.

  • #2

    Franzi (Sonntag, 05 Februar 2017 18:41)

    Schöner Blogeintrag, der das anspricht, was auch ich empfinde.
    Finde mich in fast allen Textpassagen wieder.
    Auch ich habe, genau wie Katharina, Probleme damit, solche "Probleme" in passende Worte zu fassen, wenngleich ich sehr gerne und gut formulieren kann.

  • #3

    Quendula (Sonntag, 19 Februar 2017 20:32)

    Was von außen an mich drang, war über die Jahre so zermürbend, dass ich den Rückweg zu mir selbst nicht mehr finde. Anstatt zu reagieren, bin ich ärgerlich passiv geworden. Rückzug, Kopfhörer. Ich befürchte mein Studium nicht abschließen zu können, weil mir die Menschen zu viel und zu laut sind. Je mehr ich mich zurückziehe, desto größer der Kontrast, wann immer ich gezwungen bin, mich oberflächlichen Lärmigkeit auszusetzen.
    Kennst du aber auch die Angst, dass Geräusche, welche du selbst verursachst, nach außen dringen könnten und deine Anwesenheit verlautbaren? Dies mitunter in einer Weise, die dir zu persönlich erscheint, schließlich könnten Rückschlüsse auf dein Tun, deinen Musikgeschmack, deine Gewohnheiten, Gedanken, Stimmung, etc. ohne deine Zustimmung offenbar werden?
    Das ist ein Gedanke, mit welchem ich mich selbst isoliere, weil er mir unterträglich scheint.