Der "soziale Mantel"

Ich habe mir in den vergangenen Jahren einen „Mantel“ für soziale Situationen angefertigt. Er ist ein Schutz, eine Abwehr, eine Distanz-Äußerung ohne Worte. Denn es ist sehr kalt in den Gesellschaftskreisen der Erdlinge.

 

Ich erlebe permanent starke Rivalität, Heuchelei, Lügerei, Abwertung, Grenzüberschreitung, Übergriffigkeiten, Respektlosigkeit und vieles mehr. Abgesehen davon, dass ich schon vor langer Zeit gemerkt habe, dass ich anderen selten vertrauen kann, hat die Erfahrung im Erwachsenenalter mit den mich umgebenden Menschen dafür gesorgt, dass ich noch vorsichtiger bin. Es ist naiv, zu glauben, dass Menschen respektvoll bleiben, wenn man nett ist oder sich zurückhält. Es gibt viele Motive, weshalb Anfeindungen und Lästerei ausgelöst werden können.

 

Es sind Kleinigkeiten, die dazu führen:

 

Man sitzt nicht mit ihnen am Tisch.

Man hält permanent eine gewisse (physische) Distanz ein.

Man erzählt nichts über sein Privatleben.

Man ist ehrlich.

Man antwortet mit einem „Nein“ auf alle Aktivitäts-Anfragen im privaten Bereich.

Man stellt kritische Fragen.

 

Es ist für einen Autisten schlicht unmöglich, gänzlich „normal“ zu wirken. Ich glaube von mir, dass ich sehr unauffällig in meinem Verhalten bin, aber das ist ein Irrglaube. Dafür erhalte ich zu viele Rückmeldungen, dass ich „anders“ wirke.

Was damit genau gemeint ist, hat man mir bis heute leider nicht sagen können.

 

Das Unerträglichste ist, wenn eine oder mehrere Personen über alles, was geht und steht und sich bewegt, schlecht redet. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, was sie an dem anderen auszusetzen haben, es geht anscheinend nur um das Schlechtmachen dieser Person.

Ich bin gewiss keine Heilige (zum Glück. Oder: Ich hab’s versucht, hat nicht geklappt). Auch ich lege teils Verhaltensweisen im Stress an den Tag, die ich nachher reflektierend als nicht besonders gelungen bewerte. Aber die Ausmaße der Lästereien der Menschen, die sind mir unbekannt. Von einer Sekunde auf die andere können sie über den, der gerade noch nett und freundlich war (weil er zugegen war), schlecht reden. Manchmal wundere ich mich, dass sie nicht plötzlich anfangen, über sich selbst schlecht zu reden, so massiv ist ihre „Switcherei“.

 

Ich war schon öfter live dabei, wie sich Meinungen in Gemeinschaften bilden. Sie beginnen damit, über eine Person (c) zu reden, die nicht anwesend ist. Person (a) erzählt, dass sich Person (c) so und so verhalten habe. Person (b) bewertet dies nach dem Muster wie Person (a). Beide sind sich einig, dass die nicht anwesende Person (c) diese und jene Eigenschaften habe und dass man sie nun nicht mehr mag. Und überhaupt … total eigenartig ist diese Person (c).

Dann wird es grotesk. Person (a) fängt an, über Person (b) schlecht zu reden, wenn diese nicht anwesend ist. Person (b) beginnt, über Person (a) schlecht zu reden, wenn Person (a) nicht anwesend ist. Und ich stehe dann dabei und denke: „Merken die nicht, was die da machen?“

 

Mein „sozialer Mantel“ blockt das ab. Ich halte mich raus. Es gibt keine andere Möglichkeit, um diesem Spiel zu entgehen. Es gibt noch eine einzige Möglichkeit, die ich als Option in Betracht ziehe, aber das muss wohl überlegt sein: Sie im geeigneten Moment darauf aufmerksam machen, was sie da tun. Aber im beruflichen Bereich werde ich das nur tun, wenn ich weiß, dass ich kündigen werde. Menschen einen Spiegel vorhalten kann eine Lawine lostreten. Andererseits: Die Strafe des sozialbedürftigen Menschen ist der Entzug der sozialen Zuwendung und das wäre für mich sehr zu befürworten. Das wäre also keine Strafe, sondern ein anzustrebendes Ziel. Doch viele können nicht zwischen Sozial- und Sachebene unterscheiden. Ihre Strafe hätte somit auch Auswirkungen auf der Sachebene.

 

Mein „sozialer Mantel“ verhindert, dass ich naiv vertraue und das für „bare Münze“ nehme, was man mir sagt oder versichert. Ich weiß es ja: Sobald ich außer Sichtweite (eher: Hörweite) bin, wird man über mich genauso reden wie über alle anderen. Vielleicht sogar noch mehr, weil ich doch so „anders“ wirke.

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